bvse-Präsidiumsmitglied Sebastian Will im Interview
Der Green Deal wird in Kürze zu einem Clean Industrial Deal. Wie stehen Sie zu dem Ziel, Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen?
Sebastian Will: Der Green Deal wurde getragen vom gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zeitgeist: der Sorge um das Klima, gepaart mit einer langen Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs. Ich bekenne mich hier ausdrücklich zur immensen Bedeutung, die der Klimaschutz als gesellschaftspolitische Herausforderung aus meiner Sicht einnimmt. Zur Zielerreichung wurden jedoch die Weichen derart gestellt, dass die gesellschaftspolitisch ebenso bedeutsamen Belange der wirtschaftlichen Akteure in grober und fahrlässiger Weise missachtet wurden.
Dem Verordnungswahn der europäischen Institutionen fehlte es nicht an Ge- und Verboten, Plänen, Qualifizierungen, Kontrollvorgaben und Zwängen. Die Geschichte gelehrt, dass Zentralverwaltungswirtschaften nicht zu den gesellschaftspolitischen Erfolgsmodellen gehören. Es würde sich daher lohnen, wenn sich unsere Politik darauf besinnen würde, was unseren Wohlstand ermöglicht hat: die soziale Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard, nicht die von Karl Marx.
Mit der Rezession schmolz die gesellschaftliche Zustimmung zum Green Deal wie die Polkappen in der Erderwärmung. Da sich die Unternehmen in einer global vernetzen Welt bewegen, reagierten deren Lenker mit Ausweichbewegungen, die der Verordnungsgeber nicht bedacht hatte: Immer mehr Unternehmen verlagern ihre Produktion außerhalb von Europa. Im Licht der entflammten geopolitischen Kriege sowie der deutlich konkurrierenden chinesischen Wirtschaft geriet die Konjunktur in Europa ganz schnell unter die Räder und der Green Deal immer mehr in die Kritik.
Die großzügigen finanziellen Hilfen, mit denen die EU auf diese Entwicklung reagiert, sind den Akteuren der Großindustrie vorbehalten. Der vielgelobte Mittelstand bzw. die Mittelschicht rückte wieder einmal nicht in den Fokus der politischen Entscheidungsträger.
Während in Europa Hilfen an strenge Regeln, Verbote und Ausgleichszahlungen gebunden waren, haben die USA erfolgreich auf eine recht einfache marktwirtschaftliche Finanzmittelvergabe über den Inflation Reduction Act gesetzt. Dieses System haben die „Lenker der europäischen Wirtschaftselite“ unverkennbar präferiert und die Gunst der Stunde für extreme Verlagerungsbemühungen ihrer Industrieproduktion vor allem in die USA genutzt.
Ist das Ziel zur Erreichung der Klimaneutralität aus Ihrer Sicht gescheitert?
Sebastian Will: Ich kann nicht klar sagen, ob das Ziel gescheitert ist, doch der Zustand der Wirtschaft und die gesellschaftliche Unruhe lassen Zweifel aufkommen. Dies hat man scheinbar auch in Brüssel erkannt und will über den voraussichtlich ab 2026 geltenden Clean Industrial Deal die angestrebten Ziele wirtschaftsfreundlicher erreichen. Angesichts der bisherigen Fehlleistungen der KOM bin ich gespannt, was uns erwartet.
Die EU-Regulierungswut resultierend aus dem Green Deal lähmt die Wirtschaft. Wie stehen Sie zu dieser These?
Sebastian Will: Die Daten sprechen für eine wirtschaftliche Lähmung in Europa. Das erhoffte grüne Wirtschaftswunder, das die Umbrüche abfedern sollte, bleibt aus. Im Gegenteil: Die Stahlindustrie zeigt exemplarisch, dass tiefgreifende Veränderungen bestehender Prozesse nötig sind. Unternehmen müssen sich von bewährtem verabschieden, stoßen dabei aber auf immer neue Probleme und benötigen zusätzliche Finanzmittel. Diese lassen sich jedoch nicht aus der eigenen Wertschöpfung decken. Statt den Wandel durch kluge Rahmenbedingungen zu fördern, schränkt man die Handlungsspielräume durch überbordende Regulierung ein. Die Flut an Vorgaben, Kontrollen und Vorschriften erstickt die Problemlösungsfähigkeit der Wirtschaft. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen, das Rückgrat unseres Wohlstands und Motor der Innovation, leiden unter der erzwungenen Fehlverteilung ihrer Ressourcen. CO2-Neutralität 2050 wird so nicht machbar sein.
Besonders die Primärroute der Rohstahlproduktion (BF/BOF) muss grundlegende Änderungen des Produktionsverfahrens vornehmen. Ist die extreme finanzielle Unterstützung des Prozesses durch die EU und die betroffenen Nationalstaaten gerechtfertigt oder sollte man nicht mittlerweile auch hier von einer Fehlallokation politischen Handelns sprechen?
Sebastian Will: Deutschland erzeugt rund 70 Prozent seines Rohstahls über die primäre Route und steht damit vor den größten Umbrüchen in der EU. Wegen der Systemrelevanz der Stahlindustrie und deren hohen Emissionen, vor allem durch die BF/BOF-Route, haben die EU, der Bund und die Länder bisher über 7 Milliarden Euro in die Umstellung einiger deutscher Stahlwerke auf Grünen Stahl investiert – meist sicher zu Recht. Doch bei diesen Förderungen setzen die Verantwortlichen alles auf eine Karte: die DRI-Erzeugung mit grünem Wasserstoff. Diese Technologie ist teuer, energieintensiv und in Europa ökonomisch fragwürdig. Statt technologieoffen vorzugehen, konzentriert man sich weiter auf Verfahren, die vor allem Primärrohstoffe nutzen. Der Einsatz von Sekundärrohstoffen wie Schrott, spielt in diesem Konzept vernehmlich kaum eine Rolle. Stahl- und Eisenschrotte decken aber in Europa bereits knapp 60 Prozent der Rohstahlproduktion ab und sind damit der wichtigste Eisenträger – doch das bleibt meist unerwähnt. Der bvse und seine Schwesterverbände betonen die erheblichen Vorteile: geringere Kosten, weniger Umweltbelastung und ein niedrigerer Energieverbrauch im Vergleich zu Primärrohstoffen.
Die Stahlindustrie fordert ein Schrottexportverbot. Werden die Schrottexportmengen nicht vielleicht in Zukunft doch benötigt?
Sebastian Will: Ja, es wird über die enormen EU-Exportmengen geklagt, die 2023 rund 19 Millionen Tonnen erreichten. Doch niemand nennt ein Konzept, wie und wo dieser Schrott in der Europäischen Union genutzt werden könnte. Man muss kein Topökonom sein, um zu verstehen, was passiert, wenn ein zusätzliches Angebot von 19 Millionen Tonnen auf einen Markt mit absolut sinkender Nachfrage trifft: Die Schrottpreise brechen ein.
Die Stahlindustrie hat ein Interesse daran, die Kosten für Rohstoffe zu senken. Ökonomische Vorteile stehen für sie über ökologischen Zielen. Dabei ist klar: Der ökologische Fußabdruck endet nicht an Landesgrenzen. Die Behauptung eines Schrottmangels verdreht darüber hinaus bewusst die Mechanismen eines funktionierenden Marktes und zerstört dessen Effizienz – auch im Hinblick auf die Klimaziele der EU.
Eine Ressource wird dort am besten genutzt, wo ihr Einsatz den größten Nutzen bringt. Schrott sollte also dort eingesetzt werden, wo er den höchsten CO2-Einspareffekt erzielt und Primärrohstoffe ersetzt. Dennoch beklagt die Stahlindustrie unermüdlich die hohen Schrottexporte in Drittländer und warnt vor einem angeblichen Schrottmangel, der weder existiert noch je existiert hat. Tatsächlich bleiben die Exporte seit 20 Jahren stabil bei etwa 20 Prozent des aufbereiteten Materials.
Die sinkende Stahlerzeugung in der EU der letzten zehn Jahre spiegelt keinen konjunkturellen Abschwung wider, sondern die strukturelle Schwäche der europäischen Stahlindustrie. Dieser Trend wird sich mit der fortschreitenden Abwanderung der produzierenden Industrie weiter verschärfen. Die EU-Stahlproduktion fiel von 182,3 Millionen Tonnen im Jahr 2005 auf 126,3 Millionen Tonnen im Jahr 2023. Der europäische Schrottverbrauch sank im gleichen Zeitraum von 102,2 Millionen Tonnen auf 75,2 Millionen Tonnen. Zwar stiegen die Exporte im gleichen Zeitraum von 8,4 auf 18,9 Millionen Tonnen, doch die Schrotteinsatzquote in der EU blieb mit rund 58 Prozent nahezu unverändert. Das zeigt klar: Schrottexporte resultieren aus Überschüssen, die europäische Stahlerzeuger nicht nutzen können oder wollen.
Im abgelaufenen Jahr 2024 ist der Schrotteinsatz der europäischen Werke, nach unseren ersten Schätzungen, sogar gesunken. Es wurden demnach mehr Roheisen und DRI zum Einsatz gebracht, was die Forderung der Stahlindustrie nach grünem Übergang und Energiesicherheit in einem noch absurderen Licht erscheinen lässt.
Was wären die Folgen für die Recyclingwirtschaft und die gesamte EU?
Sebastian Will: Sobald in einem Markt der Preis als Lenkungsfunktion außer Kraft gesetzt wird und ein Nachfrageoligopol entstanden ist, was mit der Forderung nach den Einschränkungen der Schrottexporte einhergehen würde, bricht dieser Markt in sich zusammen. Anbieter scheiden aus. Das Angebot muss sich so lange reduzieren, bis es mit der vorhandenen Nachfrage wieder in ein Gleichgewicht kommt.
Es wird sich also das Erfassungsverhalten ändern. Hohe Sammelquoten sind in der Regel auf eine adäquate Vergütung des Aufwandes für Sammlung, Aufbereitung und Lagerung zurückzuführen. Entfallen diese, entfallen auch die zugehörigen Aktivitäten. Schrotte verkommen zu Dingen, derer man sich entledigen muss.
Die Vielgliedrigkeit unserer Branche und die daraus resultierenden Recyclingquoten von 95 % gehören dann der Vergangenheit an. Hinzu kommt die hohe Anfälligkeit der Stahl- und Gießereiindustrie für konjunkturelle Schwankungen. Ein zeitgenössisches Beispiel, wie es in der EU laufen wird, ist Argentinien, das ein Schrottexportverbot 2009 eingeführt und bereut hat.
Zusammengefasst: Wir, die mittelständische Schrottwirtschaft, haben bisher jede Krise ohne staatliche Hilfe gemeistert, solange faire Wettbewerbsbedingungen herrschten. In Deutschland umfasst unsere Branche etwa 3.500 bis 4.000 Unternehmen und bietet über 65.000 grüne Arbeitsplätze. Europaweit sind es mehr als 300.000 Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam Recyclingrohstoffe im Wert von über 95 Mrd. Euro erzeugen. Wir sind es leid, durch falsche Behauptungen der Stahl- und Metallhütten marginalisiert, in unserer Zukunft bedroht und unserem Wirken behindert zu werden. Von der Politik erwarten wir, dass sie endlich hinschaut und mit uns, statt über uns, hinweg spricht. Kreislaufwirtschaft sind wir. Seit mehr als 100 Jahren.